„Du nennst das Kollektiv,
ich nenne es Standards”

„Du nennst das Kollektiv,
ich nenne es Standards”

Ich habe mit Van Bo Le-Mentzel in seinem Tiny house “Pick-up” gesprochen. Er ist einer der bekanntesten Namen der Tiny House Bewegung in Deutschland und denkt über die Spielräume nach, die uns Normen und Regeln geben, und interpretiert diese kreativ. Mit seinem Konzept des demokratischen Raumes versucht er mit Hilfe von Design und Architektur eine Maximierung des kollektiven Raumes und dessen Zugänglichkeit zu schaffen.

Jakob Wirth: Hallo Van Bo – Ganz zum Anfang gleich mal die erst Frage – Wer bist du eigentlich und wo sitzen wir denn gerade?

Van Bo Le-Mentzel: Ich bin Van Bo Le-Mentzel. Ich bin Architekt von der Ausbildung her. Ich habe aber in meinem Leben immer so viele verschiedene Sachen ausprobiert. Ich bin sehr viele Jahre in der Werbung hängengeblieben. Das heißt, ich weiß ziemlich genau Bescheid, wie man Geschichten erzählt, also vor allem wie man Aufmerksamkeit erzielt.
Und im Moment interessiert mich soziale Nachbarschaft sehr und habe dazu verschiedene Projekte und Organisationen gegründet. Aktuell bin ich mit der Tiny Fundation sehr aktiv und wir sitzen auch gerade in einem dieser Projekte. Das Pick-up Haus ist vor allem ein Projekt, um jetzt im Winter Kälte-Hilfe zu leisten, um zu schauen, wie Architektur, öffentlicher Raum und Mobilität mit Kälte-Hilfe und Obdachlosenhilfe zusammenkommen kann.

Jakob: Willst du noch was zu deiner künstlerischen beziehungsweise architektonische Praxis sagen?

Van Bo: Also viele bezeichnen mich als Künstler, manche bezeichnen mich aber auch als Sozialunternehmer, Designer oder Autor. Damit kann ich mich sehr identifizieren, denn ich schreibe auch. Ich selbst sehe mich nicht als Künstler, weil ich finde, wenn du wirklich Kunst machen willst, dann musst du unabhängig sein, und ich bin viel zu abhängig von so bestimmten Parametern.
Denn erstens habe ich eine sehr, sehr große Nähe auch zu Konzernen. Ich arbeite auch viel mit Firmen, zum Beispiel mit Ikea. Und ich glaube, eine gute Kunst muss wirklich so frei sein, dass sie all diese Akteure auch kritisieren kann. Mit der letzten Konsequenz, dass man mit ihnen gar nicht arbeitet.
Mich interessiert, wie ich ein Haus entwerfen kann, was nicht breiter ist als 2,55 Meter. Weil es dann einfach auf einen PKW Anhänger passt. Das sind diese Parameter, sag ich mal, aus der Realität. Die sind total langweilig, aber ich orientiere mich total daran. Ich brauche keine Häuser, die mehr wiegen als 3,5 Tonnen, weil es einfach die Straßenverkehrsordnung nicht mitmacht. Manche finden es doof, aber für mich ist es wie so ein Rätsel, dass ich im Rahmen dieser ganzen Gesetze, die es so gibt, versuche, mein Spiel zu machen.

Jakob: Ich verknüpfe deine Tiny Häuser mit dem Gedanken des Parasitären, da sie ohne eigenen Grund und Boden, also Besitz, konzipiert werden und sich dann parasitär zu öffentlichen oder privaten Flächen verhalten. Man könnte sagen, dass du damit Nischen im öffentlichen Raum bespielst? Oder wenn du Parkplätze für eine ungewöhnliche Nutzung: wie zum Wohnen, zum Kaffeetrinken, zum Interview führen, zum Relaxen oder Arbeiten nutzt? Du hast ja gerade schon die Nische innerhalb der Normen, also innerhalb der Regularien, die es erlauben, sich auf der Straße zu bewegen, wie Höhe, Breite, und Gewicht, angedeutet. Oder was ist für dich eine Nische?

Van Bo: Was ist das Gegenteil von Nische? Also das Gegenteil von Parasiten ist der Wirt. Aber was ist der Gegenspieler von Nische? Das ist wahrscheinlich der Mainstream.
Und ja, die Nische, also die Parkplatz-Nische braucht die Straße. Und wenn wir jetzt mal die Straße als Metapher sehen für Gesellschaft, dann ist sozusagen der Parkplatz vielleicht so eine kleine Nischen-Position in der Gesellschaft, also eine Position, die nicht so Mainstream ist, die nicht mit dem Strom im wahrsten Sinne des Wortes des Verkehrs mit-fließt, sondern einfach für sich da ist.
Also was ist die Nische? Und wer ist der Wirt und wer ist der Parasit?
Ein kleiner Schwenk, aber bei Care-Arbeit sagen Statistiker, dass die Hälfte aller gezählten Arbeitsstunden auf der Welt, die pro Tag verrichtet werden, unbezahlt ist, die meistens Care-Arbeit ist. Würde man bezahlen, wäre die Gesellschaft bankrott.
Ich finde es gut, dass man diese Gedanken innehält und diese Nischenposition sich mal anhört und überlegt „Hey, vielleicht kann ich nur deswegen in diesem Mainstream schwimmen, weil es die Leute gibt, die diese Nischen ausfüllen, weil die die Care-Arbeit machen, die Kinder gebären, die sich um alte Leute kümmern, die Menschen pflegen und so weiter“.
Es ist interessant, mal zu gucken, inwiefern denn diese Leute, die prekär arbeiten, das für selbstverständlich machen, ob die nicht vielleicht auch zu leise sind. Also vielleicht müssten die lauter sein, um auf diese Ungerechtigkeit letztendlich hinzuweisen. Und deswegen sind Projekte, wie du sie auch machst, so interessant, denn sie weisen auf bestimmte Ecken hin, wo man sonst nicht hinguckt.

Jakob: Ja, genau da sehe ich die Rolle des Parasiten. Dass er es vermag, Nischen sichtbar zu machen.
Was auch interessant ist an dem Begriff, ist seine Relationalität. Also je nachdem, von wo aus du schaust, ändert sich der Wirt und der Parasit. Also das kleine Häuschen auf dem Dach[1] oder selbst das Tiny House ist ein Parasit vom öffentlichen Raum, vom Straßenraum, von dem, was uns allen gehört und du eignest es dir hier an, indem du hier stehst und plötzlich einen Wohnraum daraus machst. Andererseits bist du oder sind wir beide natürlich gerade Parasiten in dem kleinen Pick-up Haus und das Pick-up Haus wird zum Wirt.
Aber noch einmal kurz zur Nische. Warum jetzt der Parkplatz, oder was ist für dich das interessante Spannungsfeld daran?

Van Bo: Bei mir geht es vor allem um demokratische Fragen. Also wo ist der Raum, wo du die Demokratie spürst?
Für mich ist das der öffentliche Raum, das heißt Straßen, Plätze, Parkbänke, Parks; das sind für mich hochspannende Räume. Da ist jeder erst einmal Mensch, egal welcher Nation er angehört, welche Papiere er hat, alle haben Zugriff. Und ich finde deswegen so einen Parkplatz, eine Straße oder einen Gehweg so demokratisch, weil da kannst du sowohl den Millionär antreffen, dem Curry 36 gehört, oder Mustafas Gemüse Kebab, aber auch Leute, die wirklich nichts mehr haben, die auf der Straße leben. Alle sind im wahrsten Sinne des Wortes auf Augenhöhe auf dieser Plattform Straße. Was die Sache jedoch verzerrt, ist die Nutzung und die ungleiche Verteilung von Raum.
Zwischen dem riesigen SUV, der über Nacht parkt, zu einer kleinen temporären Nutzung, wie mit einem Hund spazieren zu gehen oder auf einer Parkbank zu übernachten.
PKWs überbeanspruchen den gemeinschaftlichen Raum. Die Eigentümer wissen nicht, was sie mit dem Auto machen sollen, und deswegen stellen sie es im öffentlichen Raum ab und nehmen damit aber anderen diesen Raum. Das heißt, wenn du im öffentlichen Raum etwas machst, dann nimmst du immer jemanden etwas weg, das muss man wissen.
Du nennst die Suche nach diesen Zwischenräumen Nischen, die du parasitierst. Für mich ist es ein demokratisches Gleichgewichtsspiel. Das ist die einzige Möglichkeit für mich, um den demokratischen Kuchen größer zu machen und nicht zu einem Wettstreit zu machen.
Dies gelingt für mich nur über Gemeinschaft. So ist Gemeinschaft für mich ein Hebel, um aus einer Fläche, die zehn Quadratmeter groß ist, die eigentlich nur für eine Person, für einen PKW-Besitzer gedacht ist, auf einmal eine Fläche zu machen, in denen zwei Leute oder drei, vier, fünf Personen sein können. Also der Kuchen wird größer, und die soziale Verwertbarkeit von Fläche wird effizienter. Also es ist eine soziale Dichte, die dichter wird. Und das ist eigentlich meine Strategie.
Ich frage mich dauernd: Wie können wir diese soziale Dichte besser machen? Und die ist total verkümmert in Deutschland. Kaum jemand weiß, wie man soziale Dichte im öffentlichen Raum macht. Und das Ordnungsamt ist ständig hinterher, die Leute, die es dann versuchen, zu verbieten.

Jakob: Ich verwende für das Produzieren von Störung, die auf das Fehlen von Dichte hinweisen soll, den Begriff des Parasiten. Er ist sehr normativ und negativ geprägt, aber wenn man den Parasiten als Irritations-Moment versteht oder als ein Wesen, dass nach diesen Nischen oder Räumen suchen und schaut, wie man diese Räume möglichst vielfältig und so lang als möglich gestalten kann, dann ergibt sich ein anderes Bild. Dabei bleiben die Parasiten eh meist nur so lange, bis der Wirt kommt und merkt, „hey hier dürfen keine zehn Leute auf dem Parkplatz sein“.

Van Bo: Naja, wenn du dir mal anguckst die Ursprünge von menschlichem Erleben oder überhaupt von Leben allgemein, von Säugetieren zumindest, dann wirst du sehen, das beginnt ja immer parasitär. Also es beginnt immer mit irgendeinem Säugling, einem Lebewesen, was total arglos ist, da es versorgt wird an einer Nabelschnur oder wie auch immer von einem anderem System, das es umhüllt. Letztendlich die Nische im Strom und das ist normal.
Aber dieses Bild von einer Zecke, die sich so vollsaugt, oder von der Mücke, die sich von dem Blut anderer ernährt, hat sich jetzt so festgebrannt in unseren Köpfen. Aber wenn man sich mal anschaut, zum Beispiel, Pilze: Das ist so ein hochkomplexes System, dass es als Wirte oder als Parasiten abzustempeln wird dem nicht gerecht.

Jakob: Selbst in der Biologie kann man beobachten, dass Parasiten immer eine Funktion innehaben. Der Parasit zwingt manchmal den Wirt, sich anzupassen, sich ständig zu verändern, weil eben der Wirt durch den Parasiten merkt, hier ist was los. Uppsala, ich muss mich hier verändern.
Wenn man abstrahiert und raus-zoomt aus der kleinen Wirt-Parasit Beziehung und sich die ganze Stadt anschaut, kann dieses Verhalten dazu führen, dass sich eine ganze Stadt verändert oder man zum Beispiel anfängt, anders über Parkplätze nachzudenken. Und da ist auch die Frage: wie ist da das Verhältnis von kleinen Irritationen, kleinen Störungen, zu den großen Adaptionen eines Systems, einer Stadt?

Van Bo: Diese Idee, dass Systeme so aus zwei Parts bestehen, Wirt und Parasit, ist ja sehr dual. Das ist schon aus meiner Sicht eine sehr europäische Denkweise. Es gibt hier in Europa diese Vorstellung, aus religiösen Traditionen, dass es gibt so Gott und es gibt den Menschen; es gibt Jesus und es gibt dich. Stets diese Reduktion auf zwei. Wenn du dir aber einmal zwei Bäume anschaust, die dicht nebeneinander stehen, oft kannst du eigentlich nicht genau sagen, das es zwei sind–und das ist total interessant. Du kannst nicht sagen, es sind zwei getrennte Systeme, weil sie im Wurzelwerk miteinander verbunden sind. Ich meine, wo ist der Unterschied zwischen Wurzeln, Baum, Wurzelwerk und Baum-Werk? Das sind alles menschliche Definitionen. Und in nicht westlichen Kulturen gibt es schon ganz spannende Gedanken zum Thema Netzwerke. Diese Gedanken brauchen keine Aufteilung in: das ist der Wirt, der ist gut, und das ist der Parasit, der ist böse, so dieses Machtverhältnis.
Ohne diesen Dualismus kannst du weiterdenken. Wenn du jetzt überlegst, wie könnte man den Parasiten auch in so ein Netzwerk denken?
Es gibt im Buddhismus zum Beispiel die Idee von Reinkarnation. Das heißt, wenn du sagen wir mal jetzt als Zecke lebst und dann stirbst, und dann wirst wiedergeboren, dann als Wirt, als Mensch, dann bist du ja beides; also du bist mal Wirt, mal ein Parasit. Dann macht auch die Unterteilung zwischen Parasit und Wirt eigentlich nicht mehr so viel Sinn, weil jeder alles sein kann. Und diese Idee, dass jeder Mensch alles sein kann, ist so tief verankert.

Jakob: Ja, nun noch ein kleiner Wechsel. Und zwar hast du in einem Interview von Regeln brechen gesprochen und du hast es bezogen auf deine Jugend, wo du sprayen warst. Und die Frage wäre, inwiefern es notwendig ist, Regeln zu brechen, um letztlich aus der Norm oder aus der Mainstream-Perspektive herauszukommen und neue Perspektiven zu eröffnen.
Der Parasit ist etwas, was ungefragt agiert. Der Parasit fragt den Wirt vorher nicht „darf ich mich auf den Parkplatz stellen oder darf ich dich beißen?“ Du hast da von einer Notwendigkeit gesprochen, also wir könnten übertragen sagen, es gibt eine Notwendigkeit auf eine Art und Weise parasitär zu handeln?

Van Bo: Ich hätte das heute, jetzt in Zeiten von Corona Leugnerinnen, anders gesagt. Weil dieses “Du musst die Regeln brechen” kann man natürlich auch als Aufforderung zum Widerstand benutzen. Das sind ja alles die Argumente, die auch von Trump genutzt wurden, als das Capitol gestürmt wurde, oder von Corona Leugnerinnen.

Jakob: Hm

Van Bo: Wenn ich eine Regel breche, dann ist das nicht immer aus Notwendigkeit. Im Gegenteil, das kann total asozial sein. Also mir geht es schon darum, beim Regelbruch zu überlegen, was passiert, wenn das alle machen würden. Führt das zu einem Gemeinwohl für alle und würde dies funktionieren? Naja, wenn alle bei Rot über die Ampel fahren würden, dann könnte man ja gar nicht mehr Auto fahren. Wäre supergefährlich. Also ich glaube, diesen Zusatz müsste man machen. Es muss halt eine soziale parasitäre Absicht herrschen und nicht eine rein egoistische.

Jakob: Ja und ich meine, das ist der Punkt, wo ich mich frage, wie kann ich aus solchen Momenten – ob man sie jetzt parasitäre Momente oder Regelbruch-Momente nennt – also wie kann man aus solchen Momenten eine Kollektivierung schaffen, also etwas erzeugen, was sich nicht reduziert auf den einen Parkplatz. Sich nicht reduziert auf das eine Problem, was man versucht, dadurch zu fokussieren, sondern wie kann daraus etwas werden, das sich letztlich aus der Nische in den Mainstream bewegt?

Van Bo: Du nennst das Kollektiv, ich nenne es Standards. Also etwas, was mich nicht so interessiert, ist, wie entwerfe ich das perfekte Haus, eine perfekte Wohnung oder eine perfekte Stadt oder eine perfekte Familie oder einen perfekten Lebensentwurf?
Im Internet sieht man viele Sachen von mir, wo es um kleine Wohnungen geht und Tiny Häuser. Und die Leute denken, ich bin so ein Minimalismus Typ, der sich daran aufgeilt, dass die Dinge einfach sehr minimalistisch sind.
Aber ich mache die Dinge klein und minimal nicht wegen der Form, sondern immer wegen diesem demokratischen Anspruch. Was kann ich tun? Welche Standards kann ich etablieren oder diskutieren, damit es möglichst vielen Menschen damit gut geht?
Und der kleine individuelle Raum ist ja nur ein Trick. Also das ist eine mathematische Sache. Wenn wir unsere individuellen Räume, zum Beispiel Wohnungen, wenn wir die kleiner machen, können wir die gemeinschaftlichen Räume größer machen. Und deswegen beschäftige ich mich so sehr mit kleinen Räumen, um den Außenraum sozusagen noch dichter und noch größer an die Menschen zu bringen.